Cornelias Geschichte – wie ich zum Feldenkrais kam
November 1989 – der Fall der Berliner Mauer: Aufregung, Hoffnung und auch Sorge in der bisher geteilten Stadt. Ich bin Schülerin der 13.Klasse an einem großen Westberliner Gymnasium mit den Leistungskursen Musik und Französisch. Für mich steht schon fest: ich möchte Geige studieren! Am liebsten natürlich ins Orchesterfach, weil das Orchesterspielen so wahnsinnig viel Spaß macht. Oder in die Schulmusik, um auch Französisch weiter zu machen. Das Abitur gut genug bestanden, stürze ich mich zur Vorbereitung der Aufnahmeprüfung täglich in mehrstündiges Üben an der Geige, dem Klavier, in Theorie und Gehörbildung - und in ein erstes Semester Romanistik. Die Anforderungen zur Aufnahmeprüfung der Musikhochschulen sind herausfordernd, Studienplätze nur schwer zu ergattern, meine Herangehensweise ist teilweise naiv: "viel Üben heißt viel Erfolg". Nebenbei die zusammenwachsende Stadt - man kann tatsächlich ohne Visum "im Osten" herumlaufen, billig Noten und Bücher abstauben, das Orchester vom Schauspielhaus und die Staatskappelle Berlin hören! Der Osten ist auf einmal ganz nah und doch so fremd.
Ich folge dem Tipp meines heißgeliebten Geigenlehrers und melde mich zu den Aufnahmeprüfungen für die pädagogischen Musikstudiengänge nicht nur an der damaligen Hochschule der Künste in West-Berlin an sondern auch an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" in Ost-Berlin. Und dann Boom! Trotz eines völlig verzitterten Vorspiels bekomme ich einen Studienplatz an der "Hanns Eisler" für das Fach Instrumentalpädagogik! Und dann irgendwie auch einen Kulturschock. Meine Kommiliton:innen im ersten Semester sind hauptsächlich Ostberliner:innen zwischen 16 (mit sog. Vorstudienjahren) und 28 Jahren, die endlich den Beruf lernen dürfen, den sie für sich erträumen. Meine Professoren in Musikgeschichte und Instrumentenkunde sind ziemlich skuril und berlinern derb. Zusätzliche Kurse in "Studium Generale" (statt Marxismus-Leninismus), einer Sprache ("Russisch, aber nicht für Anfänger" oder "Italienisch, aber eigentlich nur für Sänger") und Sport müssen belegt werden. Meine neue Geigenlehrerin scheint mit meiner freien, starken Persönlichkeit überfordert zu sein. Ich verwickle sie in für mich selbstverständliche musikalische Diskussionen, die ihr von Schüler:innenseite aber anscheinend völlig fremd scheinen. Gleichzeitig bemerke ich, dass mein Geigenspiel jenseits derer ist, die von Kleinauf im leistungsfördernden DDR-System groß geworden sind. Dieses selbstverständliche, instrumentale Können der anderen steigert stetig meinen Stresspegel beim Geigen. Wie kann es sein, dass sie "alle" so toll Geige können, aber in Theorie, Gehörbildung, Werkanalyse sowie eigener Interpretation kaum an das Leistungskursniveau aus meiner Schulzeit heranreichen? Kleine Inseln, in denen ich meinen Intellekt einbringen kann, bleiben mir zum Glück und damit außer Verwirrung und Angst auch Freude am Studium.
Nach dem ersten Semester wechsle ich zu einem anderen Geigenlehrer. Dieser unterrichtet zuhause, aus meiner Sicht JWD! "Janz weit draußen" wie der Berliner sagt. Bereits die Anreise ist super anstrengend und dauert wegen der schlechten Ost- West-Verbindungen fast 2 Stunden. Statt nach dem DDR-Putzmittel (bekannt auch als Reichsbahngeruch), das in der Hochschule verwendet wird, duftet es hier jedoch nach schöner Seife. Statt altem Linoleum-Boden liegen hier schöne, alte Teppiche mit Fransen im Unterrichtszimmer. Ich soll immer die bereitgestellten Hausschuhe anziehen, die zu klein für meine großen Füße sind – vorne quetschen sich die Zehen, hinten hängt die Ferse über den erhöhten Hacken. Wie soll ich ihm erklären, dass mir die Schuhe irgendwann so drücken, dass mir das Stehen im Unterricht schwerfällt und sich mein Rücken und Nacken verspannen? Der Lehrer ist sehr nett, begleitend und erfreulich an der Sache. Dennoch wird über die nächsten Semester meine linke Hand immer fester, ungenauer und schnell müde. Mein Arm steht steif nach außen, Lagenwechsel über die 4. Lage hinaus stressen mich gewaltig und sind kaum machbar. Meine rechte Hand kann gar keinen glatten Ton mehr streichen und der Klang wird immer fahriger. Meine Erfolge werden zusehends bescheidener. Dabei übe ich doch! Der Lehrer sagt sogar: "Es tut halt auch mal weh. Du musst Einsatz zeigen." Was für ein unlösbares Dilemma!
Die Hochschule hat im Pflichtprogramm für Student:innen zwei Semester Sport. Unter Rückenschulung, Schwimmen und Konditionstraining wähle ich Yoga: "anspannen – halten, atmen, halten, atmen, halten – loslassen." Das tut ganz gut, ändert jedoch nichts an meinen Spielproblemen. Zu diesem Zeitpunkt bin ich nicht fähig, meine Spielprobleme als ein funktional-gestörtes körperliches Defizit wahrzunehmen sondern sehe mich als Opfer der Konkurrenz, Opfer meiner musikalischen und geigerischen Erziehumg, Opfer der Ost-West-Systeme und als Opfer eines Im-Leben-Zu-Spät-Angefangen-Zu-Üben-Problems. Während der Zeit an der Hochschule halte ich den Kontakt zu meiner früheren Musikschule und den dortigen Lehrer:innen und Mitschüler:innen. In der Klavierklasse treffe ich auf einen Schauspieler: Dieter. Dieter beginnt 1991 eine Feldenkrais- Ausbildung bei Yochanan Rywerant in Stockholm. Ist Dieter in Berlin, sucht er Leute, an denen er die Feldenkrais Einzelarbeit ausprobieren kann. Er fragt auch mich und ich gehe hin, um dieses Feldenkrais auszuprobieren. In den ersten Stunden nehme ich kaum irgendetwas wahr. Aber immer, wenn er neu anfragt, sage ich wieder zu. Irgendetwas tickern diese Berührungen und Impulse in mir an, ohne dass es mir bewusst ist, was das ist. Es folgen weitere gemeinsame Einzelstunden und auch mal ein Workshop in der Gruppenarbeit der Methode, die ich zu dieser Zeit ganz merkwürdig finde.
Im Frühjahr 1993 erleide ich einen Unfall als ich am U-Bahnhof Leopoldplatz eine Treppe zweistufig hinunterspringe. Ich kann heute noch innerlich hören, wie die Bänder in meinem linken Fußgelenk reißen. Es folgt eine OP mit Krankenhausaufenthalt, einer ambulanten Physio und vielen Wochen des Gehens an Krücken. Vor allem das Gehen an den Krücken beansprucht meine Hände sehr. Steifigkeit, Verkrampfung und Schmerzen führen dazu, dass ich ein Semster lang nicht Üben kann und meine Zwischenprüfung an der Geige verschieben muss. Zum Glück kann ich diese aber in allen anderen Fächern absolvieren. Auf einmal entwickelt sich durch eine Urlaubsbekanntschaft viel Neues in meinem Privatleben: Liebe und ein Umzug ins Berliner Umland. Außerdem bekomme ich eine Stelle als Honorarkraft an "meiner" alten Musikschule als Geigenlehrerin, was ich unheimlich toll finde. Das Unterrichten macht mir große Freude! Das Studium betreffend bekomme ich allerdings "kein Bein mehr auf die Erde" und ich schmeiße das Studium im 6. von 8 Semestern hin. Die Frustration ist hoch und eigentlich ist mir das alles wirklich unbegreiflich. Nach einigen Jahren ziehe ich, inzwischen verheiratet, nach Berlin zurück. In den Wedding. Den Kontakt zu "meiner" Musikschule, den Leuten und Gruppen dort kann ich erweitern und verstärken. Dieter, der Feldenkrais-Mensch, lädt mich zu sehr kostengünstigen Feldenkrais- Einzelstunden ein, da er sich eine ABM-Stelle über die Musikschule hat einrichten können. Ich gehe ab sofort fast jede Woche zu ihm zu Feldenkrais Einzelstunden. Eines Tages erwähnt Dieter, dass in Berlin, im Ballhaus Rixdorf, demnächst eine 3.Ausbildung für Feldenkrais-Lehrer:innen beginnen wird und fragt mich, ob ich nicht daran teilnehmen möchte. Diese Idee gefällt mir, hatte ich inzwischen doch schon so coole Feldenkrais-Erfahrungen gemacht und wieder eine bessere Verbindung zu meiner Geige bekommen. Nach einem Blick aufs Konto und einem Gespräch mit meinem Ehemann entschied ich mich dazu, die Ausbildung mitzumachen: unwissend und wieder sehr naiv, was das alles für meinen persönlichen Lebensweg bedeuten würde. Und auch ohne Recherche, wer die Ausbildung leiten oder organisieren würde.
Mit Beginn (in 2003) der Feldenkrais-Ausbildung höre ich völlig auf, "so richtig" Geige zu üben. Ich bemerke, wenn ich im Orchester oder Quartett sitze oder beim Unterrichten vorspiele, dass ich merkwürdigerweise immer besser, freier, schöner, inspirierter, volltöniger und ganzheitlicher spiele. Einmal komme ich aufgewühlt aus einem Ausbildungstag nach Hause, schiebe einfach meinen Mann zur Seite, ziehe das "schwere" Mozartkonzert und die eine mega-knifflige Doppelgriffetüde hervor, die ich so gehasst habe, und kratze mich wütend und fluchend und gleichzeit verzückt durch die Stücke. Das Erstaunliche ist nämlich, dass es geht! Ich kann es einfach spielen. Und das, ohne mich vorher stundenlang einzuspielen und daran regelmäßig zu üben! Das ist stark! Mein Gefühl für meinen Körper, meine Verbindung zum Instrument und mein Selbstbild ändern sich, die Opferrolle kann ich loslasssen, mein Geigenspiel beginne ich zeitweilig sogar zu genießen. Zum Abschluß der Feldenkrais-Ausbildung feiern wir uns mit einem festlichen Rahmen, einer Zertifikatsübergabe und einer Party. Ich traue mir zu, im festlichen Teil ein für meine Verhältnisse recht virtuoses Stück vorzuspielen. Fein angezogen und mit meinen schönen schwarzen Pumps an den Füßen lege ich mit dem Spielen los. Auf einmal verliere ich mein Zutrauen und werde nervös. Die Schuhe drücken und ich merke den Verlust an Bodenhaftung. Mitten im Spielen entledige ich mich meiner Schuhe und werfe sie direkt von den Füßen in den Raum, was zu einem großen Lacher aller führt und nicht nur meine Bodenhaftung sondern auch meine Stimmung positiv verändert. Meine Spielprobleme, heute würde man sie wahrscheinlich als "Fokale Dystonie" diagnostizieren, und die damit verbundenen Ängste des Scheiterns und der Angst vor der Angst des Scheiterns treten wenn, dann nur noch leicht und vor Publikum auf. Innerlich und funktional wachse ich weiter zusammen. Es fühlt sich tatsächlich so an, dass ich mir meine menschliche Würde wieder hergestellt habe. Ich nehme mich selbst als eine reife, reflektierte, unabhängige Persönlichkeit wahr. Manchmal bin ich noch verunsichert, eine Meinung zu Etwas haben zu dürfen und diese sogar offen auszusprechen. Aber ich lerne, auf meine Expertise, Menschlichkeit und Lebenserfahrung zu vertrauen.
Meine Leidenschaft für Feldenkrais hat tatsächlich meine Leidenschaft fürs Musizieren weit überholt. Unterrichten tue ich beides, Musik und Feldenkrais, mit Hingabe, Freude und tiefem Verständnis.
Dieter ist weiterhin "mein" Feldenkraislehrer auch wenn ich viele andere kennengelernt habe. Seit 30 Jahren lernen wir zusammen. Zwischendurch mal intensiv dann auch mal länger nicht. Mein Prozess geht definitv weiter und ich bin sehr gespannt, was mir das Leben mit und durch Feldenkrais noch alles schenken wird!